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Kazuo Ishiguro: Ist das jetzt Fantasy oder ...?

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Ishiguro: Der begrabene Riese

Eigentlich finde ich ja, dass Diskussionen darüber, ob etwas jetzt Fantasy, SF oder Literatur sei (sucht euch aus, ob einer oder mehrere der Begriffe Anführungszeichen brauchen), sind wie die Krätze. Trotzdem habe ich kürzlich eine eben solche um Kazuo Ishiguros Roman Der begrabene Riese geführt - durchaus mit Gewinn ...

Handlungsort von Der begrabene Riese ist ein mittelalterliches, alles andere als idyllisches England - die Menschen leben in kleinen Wehrdörfern oder kalten Erdlöchern, in den Wäldern treiben Kobolde und Menschenfresser ihr Unwesen, und über allem liegt ein seltsamer Nebel des Vergessens. Trotzdem könnte es sehr viel schlimmer sein - denn immerhin leben Sachsen und Briten friedlich nebeneinander, eine Folge der klugen, ehrenhaften Kriegsführung von König Artus, so sagt man. Menschenfresser, magische Nebel, König Artus - Fantasy, Check!

Aber nicht so schnell. Protagonisten des Romans sind Axl und Beatrice, ein altes Ehepaar, die in dem winzigen Erdbau, in dem sie leben, aus Gründen, an die sich niemand recht erinnern kann, gemieden werden. Dunkel erinnern sie sich, einen Sohn gehabt zu haben, der in ein Nachbardorf gezogen ist, und schließlich gelingt es den beiden, sich aus der Lethargie des Nebels zu befreien und aufzubrechen, um ihrem Sohn einen Besuch abzustatten und vielleicht sogar bei ihm ihren Lebensabend zu verbringen. Den Gefahren auf dem Weg trotzdem sie dabei, einem alten Ehepaar angemessen, eher durch Vorsicht, Bedachtsamkeit und vor allem ihre herzerwärmende Aufmerksamkeit für einander. Irgendwo sitzt aber auch ein kleiner Stachel in der Beziehung, verborgen vom Nebel des Vergessens, der um so mehr schmerzt, weil man die beiden schnell so sehr lieb gewinnt ... also eine leise Geschichte über das Altern, die Liebe und den Tod, was jetzt doch wieder nach Literatur klingt (wie gesagt mit oder ohne Anführungszeichen).

Dazu eine Zwischenbemerkung: Es ist ja sowieso schon mal klar, dass es hier nicht darum geht, Bücher in Schubladen zu stecken, sondern darum, welche Themen und Motive wir in welchen Büchern vorzufinden erwarten, wobei es bei den richtig guten Büchern oft besonderer Grund zur Freude ist, wenn man etwas ganz oder auch nur ein wenig anderes als das Erwartete vorfindet. Zu den richtig guten Bücherrn gehört übrigens Der begrabene Riese. das nur nebenbei.

Wir waren aber beim Gleichstand Fantasy/Literatur.

Weil ein Unentschieden langweilig ist, führe ich also weitere Figuren des Romans ins Feld, und die kriegerische Metapher ist hier ganz angemessen, denn es geht um den Sachsenkrieger Wistan, einen Mann mit Mut, Tatkraft und kaltem Blick. Spätestens, wenn Wistan sein enormes taktisches Geschick, seine Rücksichtslosigkeit und seine Todesverachtung mit einer ungeheuerlichen Schlachenlist unter Beweis stellt, dann dürfte auch Abercrombie-gestählten Lesern die Spucke wegbleiben. Und wenn sich dann eine Konfrontation mit dem greisen, verschrobenen Ritter Gawain herauskristallisiert, in der es um nichts weniger als das Schicksal eines bösartigen Drachen geht, der seinen Zauber über das Land gelegt hat, und wenn Gawain Axl und Beatrice durch ein Verlies führt, in dem Knochen unter den Füßen knirschen und eine scheußliche Bestie lauert, dann denkt man sich: Ziemlich viel Fantasy, mit durchaus ziemlich viel Grim & Grit und verdammt viel Drive.

Aber Moment, ist das nicht alles eher allegorisch und dann deshalb vielleicht doch eher Literatur? Denn eigentlich geht das Buch um Kriegsverbrechen, Verdrängung und die Heranführung einer neuen Generation an alten Hass. Zwischendurch begegnen Axl und Beatrice Menschen, die Geschichten von betrügerischen Fährmännern erzählen, und man ahnt schon, dass auch das eine allegorische Bedeutung hat, wenn auch weit persönlicher ...

Und damit bin ich an dem Punkt, an dem ich sagen darf und muss: Kazuo Ishiguro kann das halt alles gleichzeitig, der muss sich nicht entscheiden, ob etwas Allegorie ist oder Märchen oder etwas, das in einer Fantasy-Welt eben einfach geschieht, weil es dort Menschenfresser und (ECHT gruselige) Flusskobolde und listige, grausame Krieger gibt. Der kann einfach mal einen Fantasy-Roman schreiben, den die Leute für Literatur halten (oder auch umgekehrt), und über den man die Diskussion dann auch beenden kann, weil sich alle einig sind, dass das einfach gut ist, egal, wie viele und wie wenige Elemente des einen oder anderen Genres, mit oder ohne Anführungszeichen, man darin findet, und zwar gerade, weil das egal ist.

 

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